
Ein schmales Büchlein sorgt für Aufregung. »L’insurrection qui vient« (oder »Der kommende Aufstand« in der deutschen Übersetzung) ist 2007 in Frankreich von einem Comitée invisible (Unsichtbares Komitee) geschrieben worden. Es hat sich nicht nur als Bestseller in Frankreich, den USA und seit seiner Übersetzung im deutschen Sprachraum entwickelt, sondern auch für viel Gesprächsstoff nicht nur innerhalb der Linken gesorgt. Von anarchistischen Zeitschriften bis zur bürgerlichen Presse fand »Der kommende Aufstand« Beachtung und oft anerkennende Kritiken. In den USA verhalf der ultrareaktionäre Fernseh-Talkmaster Glenn Beck dem gut 100seitigen Text zu einem riesigen Erfolg, als er ihn als durchaus ernstzunehmende und intelligente Verlautbarung der Feinde Amerikas darstellte. Die Autor_innen treffen also durchaus einen Nerv der Zeit mit ihrem Büchlein, das die Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit der kapitalistisch-bürgerlichen Normalrealität beschreibt und für die totale Revolte plädiert. Weshalb sie vielen kritischen Geistern aus dem Herzen sprechen und weshalb ihre Lösungsvorschläge doch keine sind, darum geht’s im Folgenden.
Während es in Tunesien, Libyen und Ägypten in Griechenland und England brodelt, die Menschen in Massen auf die Strasse gehen und sich zu wehren beginnen, bleibt es hierzulande ruhig. Es gäbe auch hier genügend gute Gründe, um zu rebellieren. Ohne Zweifel. Doch Ohnmacht und Angst bestimmen die »politische« Landschaft, denen sich auch die Linke nicht ganz entziehen kann. Es ist diese Situation der Starre, der Resignation und Schickung ins Bestehende, die den Ausgangspunkt des kleinen Büchleins »L’insurrection qui vient« bildet.
»Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos«. (5) Dem kann zustimmen, wer selbst die Lähmung kennt, mit der die Gegenwart geschlagen scheint, die Zukunftslosigkeit einer Gesellschaft, die nicht mehr weiter weiss, ohne es zuzugeben. Und dies sind nicht wenige, zumindest in den bedrohten aber materiell noch nicht völlig verelendeten Gegenden und Schichten der Gesellschaft. Denn ja, so das vorherrschende Empfinden: Wir, die Bewohner_innen dieser Welt, in der sich der Kapitalismus global durchgesetzt hat, in der die Logik des Kapitals und der Konkurrenz noch die letzten »privaten« Residuen okkupiert, wir wissen nicht mehr weiter. Es fehlt die Perspektive, die über diesen Zustand hinaus weisen würde, die Bewegung, die stark genug wäre, eine grundsätzlich andere Logik in der Negation der kapitalistischen Verhältnisse durchzusetzen. Es fehlt der Glaube an die Möglichkeit einer Gesellschaft, in der sich die Ökonomie an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und in der materielle Gleichheit und das Prinzip allgemeiner Kooperation die Bedingungen der Möglichkeit individueller Entfaltung wären, obwohl die nötigen Voraussetzungen durchaus gegeben wären. Ihrer Verwirklichung steht die Angst entgegen, die Angst, die uns lähmt und ans Bestehende bindet.
»L’insurrection qui vient« gibt dieser Stimmung einen Ausdruck und plaudert so das Geheimnis aus, das dem herrschenden Bewusstsein zwar bekannt ist, aber – um dem Funktionieren des Ganzen wie der Einzelnen willen – nicht zugegeben werden kann. »‚Das Künftige hat keine Zukunft mehr’ ist die Weisheit einer Epoche, die hinter ihrer Fassade extremer Normalität auf dem Erkenntnisstand der ersten Punker angekommen ist.« (5)
Die Autor_innen verleihen dem Unbehagen Worte, das die ununterbrochene Betriebsamkeit der modernen kapitalistischen Gesellschaft in ihren Zentren der Macht begleitet und machen die Leere sichtbar, die den Inhalt des Lebens und Arbeitens in ihr bildet. Darf es der herrschenden Ideologie gemäss den Menschen als elendes und geknechtetes Wesen nur als Opfer brutaler Diktaturen geben, die ihren Untertanen die Wohltaten des bürgerlichen Liberalismus und der freien Marktwirtschaft verweigern, so spricht der Text den Menschen inmitten der Wohlstandszentren der westeuropäischen und nordamerikanischen Länder als elend und geknechtet an und aus.
»›ICH BIN WAS ICH BIN.‹ Mein Körper gehört mir. Ich bin ich, du bist du, und es geht schlecht. Massen-Personalisierung. Individualisierung aller Bedingungen – des Lebens der Arbeit, des Unglücks. (…)‚ ›I AM WHAT I AM.‹ Niemals hat Herrschaft eine über jeden Verdacht erhabenere Lösung gefunden. Die Erhaltung des Ichs in einem Zustand des permanenten Halbverfalls, in einem chronischen Halbversagen, ist das am besten gehütete Geheimnis der aktuellen Ordnung der Dinge. Das schwache, deprimierte, selbstkritische, virtuelle Ich ist wesensmässig das unendlich anpassungsfähige Subjekt, das von einer Produktion erfordert wird, die sich auf Innovation, beschleunigten Verfall der Technologien, beständige Umwälzung der gesellschaftlichen Normen, verallgemeinerte Flexibilität begründet. Es ist gleichzeitig der gefrässigste Konsument und, paradoxerweise, das produktivste Ich, das sich am kraftvollsten und gierigsten auf das geringste Projekt stürzt, um später zu seinem ursprünglichen Larvenzustand zurückzukehren. « (S. 11–13)
Was »Der kommende Aufstand« so bietet, ist nicht nur eine Beschreibung sondern eher eine Poesie der Ohnmacht und des Elends, der Verwahrlosung und Entfremdung. Eine Poesie, die zu ihrem Gehalt die Wahrheit über den Zustand der Gegenwart hat, die – wie der bereits zitierte Eingangssatz des Büchleins verkündet – ausweglos ist. So weit ist das Büchlein eine poetische Aktualisierung der Untersuchungen und Erkenntnisse, die Leute wie Herbert Marcuse, Adorno und andere neomarxistische Kritiker der Entfremdung in der Konsumgesellschaft bereits aufgestellt haben. Eine solche Aktualisierung ist nicht gering zu schätzen. Der Text vermag in mancherlei Passagen durch die Mittel der Literatur nicht nur darzustellen sondern die Leser_innen durch die Art der Darstellung anzustecken und mitzureissen. Er vermag, wie man es mit einer abgegriffenen, hier aber passenden Metapher sagen kann, vielen Menschen »aus dem Herzen zu sprechen«. Dem Schrecken und der Bedürftigkeit Ausdruck zu geben aber bedeutet die Möglichkeit, sich in Worten verstanden zu wissen und ist der erste Schritt eines Bewusstseins, das die Ohnmacht und Angst zu überwinden vermöchte.
Doch das Comitée invisible will mehr, viel mehr. Wenn Adorno letztlich im blossen Gestus der Radikalität verbleibt und diese Gestenhaftigkeit seiner Kritik durch die ängstliche Ablehnung aller praktischen politischen Interventionen und seine Hinwendung zur Ästhetik als dem Residuum des Utopischen unterstreicht, so versuchen die Autor_innen von »L’insurrection qui vient« nicht im denkenden und dichtenden Nachvollzug der Unerträglichkeit des Falschen stecken zu bleiben. Sie wollen auch den Ausbruch daraus, die praktische Negation desselben, die in ihm angelegte Logik der Revolte aufzeichnen. Dafür genüge es – so das Unsichtbare Komitee im einleitenden Text – »sich zu den Schreibern der Situation« zu machen: »Es ist das Privileg der radikalen Umstände, dass die Genauigkeit dort in guter Logik zur Revolution führt. Es genügt, das zu sagen, was man vor Augen hat, und die Schlussfolgerungen nicht zu umgehen.« (10)
Es stellt sich aber die Frage, ob dies gelingt und auch ob die Situation, die der Text beschreibt, so radikal ist, wie man als Leser_in, dem verführerischen Duktus des Büchleins erliegend, zunächst gern zu glauben bereit ist. Von wessen Situation ist denn eigentlich die Rede? Für wen ist der Text geschrieben? Wem spricht er »aus dem Herzen«? Und weshalb vermag die Hoffnung auf den kommenden Aufstand, in die das Büchlein mündet, nicht recht zu überzeugen?
Ich wage zu behaupten, dass das Publikum von »L’insurrection qui vient« in seiner Mehrzahl weder die Migrant_innen, die in den französischen Vorstädten vegetieren und rebellieren, noch die Industriearbeiter_innen Italiens oder die Harz-IV Empfänger_innen in Ostdeutschland sind. Viel eher handelt es sich dabei um proletarisierte »Gebildete«. Angst haben die, die noch etwas zu verlieren haben. In einem Zustand »permanenten Halbverfalls«, in welchem sie sich begierig »auf das geringste Projekt« stürzen, sind die, die durch ununterbrochene Betriebsamkeit gegen die lähmende Ohnmacht ankämpfen müssen. Gerade weil es für sie innerhalb der Hermetik des Bestehenden etwas zu tun und – zumindest theoretisch – etwas zu erreichen gibt, dieses »Etwas« aber immer dünner und dünner wird, bis es ganz verschwindet. Was »Der kommende Aufstand« als den Ausgangspunkt seiner Überlegungen beschreibt, ist das Elend derer, die ohne in ihrer materiellen Existenz unmittelbar gefährdet zu sein, den »Sinn«, den sie an die Gesellschaft bindet, verlieren. Und die sich deshalb meist umso mehr an seine Reste klammern, während ihr realer Spielraum kleiner und kleiner wird. Es sind dies in erster Linie die Intellektuellen und Kreativen, die Studentinnen, Werber, Grafikerinnen oder freischaffenden Autoren, die Journalistinnen und Künstler, Lehrerinnen und Kindergärtner – kurz: die wachsende Schicht von Menschen mit guter Ausbildung und bürgerlicher Bildung, die trotzdem nicht zur herrschenden Klasse gehören, auch wenn sie unter der bürgerlichen Hegemonie des zeitgenössischen Kapitalismus, wie sie in den westlichen Ländern durchgesetzt ist, zur Produktion und Reproduktion von deren Ideologie wesentlich beitragen, ja in solcher Ideologieproduktion meist ihre Arbeit besteht.
Ihre grösste Herausforderung Tag für Tag ist, aus Nichts – der Leere ihrer Tätigkeit, dem im permanenten Druck abhanden kommenden Sinn ihrer Anstrengungen – Etwas zu machen. In ihrer beschränkten Verantwortung, die an sie übertragen ist, und Ohnmacht, mit der sie zu kämpfen haben, sind sie von ihrer gesellschaftlichen Stellung her überdurchschnittlich kritisch und unterdurchschnittlich revolutionär. Sie sind kritisch in ihrem Blick auf die Gesellschaft, gerade weil sie zumindest partiell an sie glauben müssen, um ihre Aufgabe auszuführen. Ihr Klassenbewusstsein ist meist wenig ausgebildet, weil es ihnen an Erfahrungen von Kollektivität fehlt. Doch der Glaube an die Richtigkeit des Ganzen ist erschüttert. Immer schwieriger wird es, sich selber vorzumachen, dass man bei der Arbeit sich selbst und seine Begabungen verwirklichen und etwas »Sinnvolles« tun kann.
Es ist also keineswegs falsch, die Situation dieser Bevölkerungsschicht genauer zu betrachten, aus der sich sicherlich ein Grossteil der heutigen westeuropäischen radikalen Linken – mich mit eingeschlossen – rekrutiert. Die kapitalistische Gesellschaft produziert verschiedene Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, es gibt in ihr unterschiedlichste Brennpunkte, an denen sich Widerstand regen und Kämpfe entwickeln können. Es wäre auch richtig, ja sogar unbedingt notwendig, aufzuzeigen, wie es Verbindungslinien und Gemeinsamkeiten zwischen dem wachsenden Unbehagen der im bürgerlichen Sinne Gebildeten und den Kämpfen in den Vorstädten, den Streiks in den Fabriken, der Not der Sozialhilfebezüger_innen usw. gibt und wie es nur mit vereinten Kräften möglich sein wird, die Verhältnisse umzuwerfen und neu zu gestalten. Nur versucht das Büchlein nichts dergleichen.
Was also schlägt »L’insurrection qui vient« vor? Gefordert wird eine Entscheidung: »Die Katastrophe ist nicht das, was kommt, sondern das, was da ist. (…) Das ist der Punkt, an dem man Partei ergreifen muss.« (75) Dies ist sicherlich nicht falsch und folgt tatsächlich aus der Beschreibung des Elends, von dem das Unsichtbare Komitee ausgeht. Wenn es so, wie’s läuft, keine Zukunft geben kann, gilt es die vorgespurten Wege des Bestehenden vollständig zu verlassen. Die Entscheidung, die hier jedoch aufscheint, bleibt die zwischen zwei Katastrophen: der des Bestehenden und seinem Lauf in den Untergang und der des Zusammenbruchs desselben. Denn über den aktiv betriebenen Zusammenbruch des Bestehenden weist der Text nicht hinaus.
Stattdessen wird eine Romantisierung der Revolte betrieben, die sich wenig für Politik und objektive Verhältnisse (oder ihre mögliche revolutionäre Aufhebung) interessiert. Stattdessen werden das persönliche Erleben der rebellierenden Tat resp. der ästhetische Blick darauf ins Zentrum einer angeblichen revolutionären Emanzipation gestellt, die sich – so offenbar die Meinung – ganz spontan und in einer Logik der Eigendynamik der Revolte vollziehen wird. Hier kippt die Poesie des Textes zuweilen in Esoterik: »Ein Lauffeuer verbindet das miteinander, was sich bei jedem Ereignis nicht durch die absurde Zeitlichkeit von der Aufhebung eines Gesetzes oder von irgendeinem anderen Vorwand hat gleichschalten lassen. Stossweise und in ihrem eigenen Rhythmus sehen wir so etwas wie eine Kraft Gestalt annehmen. Eine Kraft, die ihre Zeit nicht erleidet, sondern still erzwingt.« (123)
Die »Ereignisse« aber, die so ausstrahlen und in die eigene Logik und Zeitlichkeit des Aufstandes eintreten, gehen zunächst weniger in ihrem realen Erfahrungsgehalt als in ihrer ästhetischen Ausstrahlung in die Erfahrung, die der Text beschreibt, ein. Die brennenden Autos und Polizeistationen in den Vororten vieler französischer Städte 2005 tauchen im Diskurs, den die Autor_innen von »L’insurrection qui vient« betreiben, als losgelöste Bilder auf. Es geht nicht um eine Analyse der Situation dieser Aufstände in den Vorstädten, ihrer gesellschaftlichen Bedingungen, Widersprüche, politischen Möglichkeiten und Fehler. Es geht auch nicht um ihre Besonderheiten und eventuellen Gemeinsamkeiten mit anderen Brennpunkten des Widerstands, sondern um ihre einfache Einreihung in die Bilderreihe fliegender Molotov-Cocktails und Pflastersteine, die unterschiedlichste Ereignisse – von den Unruhen in Athen, über französische oder amerikanische Streikbewegungen bis hin zum Widerstand gegen die G8 in Genua – produziert haben. Eine Ästhetik der Revolte, die sich nicht um ökonomische, soziale, politische Fragen kümmert. Es ist dies ein Blick auf die Ereignisse in ihrem Erscheinungsbild, ohne Bemühung, ihnen, ihrer Dynamik und den Lehren, die aus ihnen gezogen werden könnten, auf den Grund zu zu gehen. Die Ereignisse treten als Bilder von Ereignissen in die Argumentation des Textes ein. Sie sind Projektionsflächen eines aufständischen Wunschdenkens.
Ein solcher Bilderreigen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Autor_innen in »Der kommende Aufstand« nicht die Mühe machen, den Aufstand und die objektive Klassenposition sowie die konkrete Lebens- und Arbeitssituation der verschiedenen Menschen in den Zentren des globalisierten Kapitalismus mit einander in Verbindung zu setzen. Der Boden, auf dem der Aufstand gemäss dem Büchlein gedeihen soll, ist nämlich nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern ein erst zu schaffendes Ausserhalb derselben, dem die Autor_innen den Namen »Kommune« geben. Diese Kommunen bleiben als eine Art Aussteigerprojekt vage und gewissermassen virtuell: »Die Kommune ist das, was passiert, wenn Wesen sich finden, sich verstehen und beschliessen, zusammen ihres Weges zu ziehen.« (80) Die Kommune ist keine Organisation, der das Unsichtbare Komitee misstraut und die sie als »leere Architektur« (78) zurückweist. Sie ist erst recht kein »Milieu«, ein Begriff, mit dem in »L’insurection qui vient« identitätsstiftende soziale Zusammenhänge benannt werden – die schlimmsten Milieus seien dabei das aktivistische und das kulturelle Milieu –, die »konterrevolutionär« seien, »weil ihre einzige Beschäftigung darin besteht, ihren schlechten Komfort zu bewahren.« (80) Die Kommune hat zu ihrer Voraussetzung das Heraustreten aus dem normalen Gang der Gesellschaft und ist gekennzeichnet durch ein qualitativ anderes Erleben in ihrem Innern. Dieses Erleben ist geprägt von einem Umgang der Mitglieder mit einander, der sich aus dem die Kommune konstituierenden Ereignis herleitet. »Eine Kommune bildet sich jedes Mal, wenn einige – aus der individuellen Zwangsjacke Befreite – plötzlich anfangen, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen und ihre Kraft an der Wirklichkeit zu messen.« (80/81)
Das Büchlein sitzt hier einem Kult angeblicher Authentizität auf, die im Bruch mit den Normen und Gesetzen des Bestehenden denen, die sich dazu entschliessen, im gemeinsamen Erleben als Erfahrung zuströmen und sie so der Entfremdung entheben soll. Diese angebliche Erfahrung wird zum Gehalt emanzipatorischer Politik verklärt und letztere so auf eine Form der Selbstfindung und individueller Lebensgestaltung reduziert, wie kollektiv diese sich auch darstellen mag. Die materiellen Verhältnisse und ihre konkrete und globale Umwälzung in einem politischen und bewussten Prozess fallen dabei aus dem Blick. Dies aber bedeutet die Preisgabe revolutionärer Transformation der Gesellschaft an ein diffuses Konzept permanenter Revolte als Selbstzweck persönlicher Emanzipation. In ihrer Anrufung der Revolte perpetuieren die Autor_innen letztlich die Vereinzelung und Ohnmacht der präkarisierten »Gelehrten«. Das Pathos der Worte, mit denen die Autor_innen zum Auf- und Ausbruch blasen, kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die kleinen und grösseren Vandalenakte, die »spontanen« Revolten und Sabotagen nicht aus der Einsamkeit und auch nicht aus der Ohnmacht führen, die sie durchbrechen sollen.
Es ist wohl solche Vagheit und Esoterik, die das Büchlein anfällig macht für eine Kritik, die ihm allen emanzipatorischen Gehalt abspricht und es stattdessen in die Nähe faschistischer Kreise rücken will. Die Berliner TAZ und die Jungle World schlagen in ihren Rezensionen diese Richtung ein. Dies allerdings setzt eine äusserst böswillige und unterstellende Lektüre voraus, kombiniert mit einer Sicht auf die Welt, der die Unsicherheit, die grundsätzliche Verändrungen mit sich bringen, Angst machen und die sich im Zweifelsfall ans Bestehende hält. Diese Position droht früher oder später in die Resignation vor dem Bestehenden zu verfallen, das es in sozialdemokratischer Weise zu verwalten gilt. Jede praktische Zurückweisung desselben und jeder Ansatz zur Überwindung der Situation, der immer voller Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten des Bewusstseins und der Motive sein wird, machen hingegen nur noch Angst. Wenn es einen Verdienst des praktischen Teils von »L’insurrection qui vient« gibt, ist es gerade das offensive Heraustreten aus einer solchen Ängstlichkeit.
Die Affirmation revoltierender Gewalt dient in »L’insurrection qui vient« als Markierung eines Austritts aus der selbst gewalttätigen Logik des Bestehenden. Dem Austritt aus einer Normalität also, die für sich in Anspruch nimmt, die einzig mögliche zu sein und darum das Monopol auf die Ausübung von Gewalt zu haben. Die Gewaltaffirmation des Comitée invisible ist so das Gegenteil faschistischer Ordnung, die stets das letzte Mittel der Herrschenden gegen die Revolte ist, die ihnen gefährlich werden könnte.
Wenn die Autor_innen daran festhalten, dass es nicht die »Banden« in den Vorstädten und nicht die vandalierenden Jugendlichen sind, die heute zu fürchten wären, sondern der sich perpetuierende Zustand der Hermetik, der Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit, des Elends, der Starre und Angst als solcher, so lassen sich dafür sehr wohl gute Gründe nennen.
Die Welt geht an ihrer kapitalistischen Normalität zugrunde und nicht an denen, die diese partikular sprengen – und sei es auch noch so gewalttätig und sinnlos. Denn diese Normalität zeichnet sich aus durch Ausbeutung und Unterdrückung, stetig wachsende Arbeitshetze, barbarische Konkurrenz von Kindesbeinen an, Hunger in vielen Weltregionen, Kriege und die radikale Entfremdung der Menschen von einander und von der Wirklichkeit, in der wir leben, rücksichtslose Zerstörung der Umwelt usw. Es hat auch nichts mit einer Verklärung von Gewalt und antidemokratischem Gehabe zu tun, wenn man den Prozeduren der Verwaltung in den Parlamenten und »demokratischen« Wahlen nicht nur gründlich misstraut, sondern sie negiert; Wahlen, deren Spielregeln so gestaltet sind, dass durch sie nicht nur keine wirkliche Veränderung möglich ist, sondern dass sie den herrschenden Diskurs durch leere Betriebsamkeit und Gefechte um Verwaltungsfragen so okkupieren, dass darin der Gedanke an grundsätzlich andere Möglichkeiten gar nicht mehr aufkommen soll.
Der Krawall und die Wut der Banden sind an sich nicht das Problem, im Gegenteil eröffnen sie Breschen, in denen sich etwas anderes formen könnte. Aber – und hier nun zeigt sich die Schwäche des Büchleins – Krawall und Wut haben an und für sich noch keinen politischen Gehalt. Die Fetischisierung einer Praxis des Bruchs mit Norm und Legalität ist selbst noch lange kein politisches Projekt. Vereinzelung und Individualisierung des Leidens und des Drucks sind Symptome eines Systems, das Egoismus zur Triebfeder seiner Reproduktion macht. Die aufgestaute Wut des Einzelnen bleibt auch da, wo sie sich entlädt, in dieser Logik verhaftet. Ausbrechen ist ein individuelles Projekt, auch dann noch, wenn sich ein kleines Grüppchen Aussteiger zur »Kommune« zusammenschliesst. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben davon unberührt. Die Befindlichkeit der Aktivist_innen ist für sich genommen noch keine politische Kategorie und schon gar nicht ein Indikator des Erfolgs einer politischen Intervention. Der Vandalenakt ohne politisches Projekt und politische Strategie bleibt seiner Struktur nach ein Amoklauf und ist nur Ausdruck endgültiger Ohnmacht und Vereinsamung, die sich in Destruktion entlädt, trotz seines Gestus der Ermächtigung und Negation. Eine Tat als solche, so befreiend sie für die Täter_innen auch erscheinen mag, hat nichts mit Befreiung in einem politischen Sinn zu tun. So lange sie nicht an ein Projekt gebunden, in einen grösseren politischen Zusammenhang gestellt ist, ist sie selbst Ausdruck einer Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit, fortgeschrittener Einsamkeit und Marginalisierung, gegen die ihr Aufbegehren höchstens symbolisch bleibt. Überdies transportiert sie oft patriarchale, rassistische und andere Unterdrückungsverhältnisse, unter deren Eindruck Wut in Ressentiment umschlagen kann.
Nochmals: das Problem ist nicht die Gewalt, die in »Der kommende Aufstand« propagiert wird, und schon gar nicht der mangelnde Respekt vor den Autoritäten und Institutionen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrem Staat sowie den »demokratischen Spielregeln«. Im Gegenteil ist der Mangel an solchem falschen Respekt durchaus angebracht und nötig für jeden politischen Ansatz, der die bestehenden Verhältnisse nicht einfach hinnehmen will und die Emanzipation aller Menschen anstrebt. Aber eine mit dem staatlichen Gewaltmonopol brechende Gewalt ist eben für sich genommen auch nicht die Lösung. Aus der Revolte folgt keineswegs schon die Revolution. Der Zusammenhang zwischen beiden ist nicht per se gegeben. Revolution ist der allgemeine Aufstand mit dem Ziel, die Besitzverhältnisse und die Logik der Produktion gesamtgesellschaftlich so umzugestalten, dass es nicht länger Ausgebeutete und Ausbeutende gibt. Es ist dies ein Prozess, der keinen Bereich der Gesellschaft unangetastet lässt und der einen hohen Grad an Bewusstheit und Planung zur Voraussetzung hat. Die Revolte ist ein mehr oder weniger starker Ausdruck von Nichteinverständnis oder von individueller Rebellion, der aber lokal und zeitlich begrenzt ist und für sich genommen weder politisch noch emanzipatorisch sein muss. Revolte und Revolution sind zwei qualitativ verschiedene Dinge, auch wenn sie oft zusammengehören.
Das Beispiel Tunesien, wo sich wirklich eine Revolte zu einer Bewegung entwickelt hat, die die Regierung zu stürzen vermochte und von der noch nicht absehbar ist, ob sie revolutionäre Qualität entwickelt, ist nicht verallgemeinerbar. Im Falle von Tunesien handelte es sich um ein autoritäres Regime, mit klar erkennbarer Machtverteilung. Ein solches ist leicht zu durchschauen. In den bürgerlichen Demokratien des Westens ist eine solche Entwicklung kaum vorstellbar. In komplexeren Gesellschaften gibt es nicht einfach eine herrschende Clique, die man stürzen kann, sondern raffinierte Netze von Teilhabe, Kontrolle, Aus- und Eingrenzung etc, die die Logik der Ausbeutung, auf der diese Gesellschaften nicht weniger als die autoritären beruhen, sichern und in denen es sogar manche Gleichzeitigkeiten von Ausgebeuteten und Ausbeutern gibt.
Die Kommunen, von denen »Der kommende Aufstand« spricht, bleiben Aussteigerprojekte von Einzelnen, nicht etwas, das sich aus dem Leben und dem Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter – seien es nun solche in der Fabrik oder solche an Schreibtischen, in den Schulen oder Universitäten – entwickelt. Ihr gesellschaftlicher Ort bleibt irreal, virtuell und – wo sie konkreter Gestalt annehmen – ist nicht ersichtlich, wie sie sich von blossen Milieus unterscheiden, gegen die die Autor_innen so vehement anschreiben.
Gewalt spielt eine Rolle bei jedem Aufstand und jeder Revolution. Das Gewaltmonopol des Staates sowie die Grenzen der Legalität und der »demokratischen« Spielregeln herauszufordern und zu durchbrechen, ist Bestandteil jeder revolutionären Politik. Doch ist Gewalt weder ihr Ziel noch das sie auszeichnende Mittel. Wo Gewalt als etwas Eigenwertiges behandelt und zum Massstab genommen wird, verfällt man einem Nihilismus, der ein Mittel zum Projekt selbst erhoben hat. Es gilt der Möglichkeit einer anderen Welt praktisch wie theoretisch Gestalt zu geben, in der Negation des Bestehenden wie im Entwerfen des Kommenden. Diese beiden Seiten kommunistischer Politik – um ein revolutionär emanzipatorisches Bestreben einmal so zu benennen – müssen wieder mehr zusammengedacht werden sowohl im Blick auf die Zukunft als auch im kritischen Blick auf die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts. Für die kommunistische Bewegung bedeutet Negation die Aufgabe, aus dem Nihilismus hinauszufinden, nicht in ihn hineinzukommen. Damit die revolutionäre Linke auch in Westeuropa wieder zu agieren statt immer bloss zu reagieren vermag, braucht es gerade nicht eine letztlich individualistische Praxis um der Praxis Willen, die den direkt Beteiligten vielleicht ein gutes Gefühl beschert, aber ohne Plan und Strategie bleibt. Wenn der Kommunismus heute und in Zukunft eine Bedeutung haben soll, gilt es, theoretisch wie praktisch weiter zu arbeiten im offenen, solidarischen und kritischen Austausch miteinander.
Autor
Lukas Germann (*1973, lebt und arbeitet in Zürich) schaut gern nächtelang Filme aus aller Welt und schreibt an einer Dissertation zum widerständigen Potential filmischer Ästhetik. Seit zwei Jahrzehnten ist er in der ausserparlamentarischen Linken – mal mehr, mal weniger – aktiv.
Literaturliste
Unsichtbares Komitee (2007): Der kommende Aufstand. Übersetzt aus dem Französischen von Elmar Schmeda. Hamburg. Edition Nautilus 2010