
Ausschaffungsgefängnis Kloten. Juni bis November 2010. G. F.: 43 Jahre alt. 14 Monate Ausschaffungshaft. Kämpferisch. Afghanistan. Männlich. Entlassen. Zivildienstler: 26 Jahre alt. 6 Monate Schweiz. Erstaunt. U.K.: 22 Jahre alt. 22 Monate Ausschaffungshaft. Verzweifelt. Liberia. Männlich. Entlassen nach Suizidversuch.
Ich schrieb viel, über mein Leben, über Beamte, darüber, was dort geschah. Weil ich dort genug Zeit hatte, so alleine in der Zelle, achtzehn, neunzehn lange Stunden, ohne dass jemand gekommen wäre. Mit Schreiben konnte ich mich beschäftigen, monatelang.
Ein Ort im Abseits. Ein Gefängnis an sich mache, wenn man hinschaue, verschämte, verschwiegene Sachen sichtbar. Aussergewöhnlich sei demgegenüber das Ausschaffungsgefängnis, extrem unsichtbar sei es, draussen wisse man kaum etwas über diesen Ort, es sei ein Ort, um den wir uns nicht kümmern würden. Ebenso unsichtbar seien auch die Geschichten, die Leute, die dorthin verbracht werden. Die kämen so nicht vor. Nicht mal was Verdrängtes sei es. Mit solch einem Ort wolle man schlicht nichts zu tun haben, man delegiere das – so halb mit schlechtem Gewissen. Leute fänden sich in unserer Gesellschaft, die das dann erledigen würden. Auf Seiten der Aufseher zeige sich da dann auch die soziale Frage: das Ausschaffungsgefängnis sei so etwas wie ein Abflussrohr der Gesellschaft. Es würden sich die drängenden Probleme unserer Gesellschaft ballen. Hier übergebe man ein grosses Problem nicht qualifizierten Leuten, so dass sich alles dort sammle. Das sei ein Drecksjob, den jemand für eine Gesellschaft erledige. Für ihn sei es daher auch auf der Beziehungsebene spannend mit unterschiedlichen Leuten, zusammengewürfelt aus allen möglichen Milieus, zusammenzuarbeiten. Beziehungen entstünden da, auch Gewaltbeziehungen.
Vierzehn Monate lebte ich insgesamt in Ausschaffungshaft, zehn davon in Zürich Kloten. Ich war dort Nummer 411, 406, 312, 304 und 207, das waren die Zellen, in denen ich untergebracht war. Es gab dort sehr unterschiedliche Leute, afrikanische, arabische. Menschen aus verschiedenen Ländern. Du lebst dort eng zusammen, du musst miteinander reden, essen. Es gibt keine andere Möglichkeit, und du brauchst auch jemanden, mit dem du reden kannst. So hatte jeder dort seine Kontakte.
Im Ausschaffungsgefängnis Zürich Kloten waren die Zellentüren jeweils von morgens 8.00 Uhr bis 16. 30 Uhr abends offen. In jeder Zelle gab es einen Plan, geschrieben in Englisch und Deutsch, wo drauf stand, wann man duschen darf, wann frühstücken, mittagessen, abendessen, alles. Besuch im Kraftraum, Hofgang, Telefonnummern, Besuchstage. Und Ausnahmen: kein Besuchstag war mittwochs und sonntags. Am Vorabend wurde ich jeweils informiert, wer am folgenden Tag zu Besuch kommt, mit Name und ob am Vormittag oder am Nachmittag. Sobald die Zellentüren am Morgen geöffnet wurden, gingen wir raus, sofort raus in den Korridor. Es gab dort so ein Spielzimmer, wo wir gespielt haben, Tischfussball, Tischtennis und miteinander geredet, bis zum Mittagessen. Jeden Tag pünktlich um 11.00 Uhr kam dann das Mittagessen. Gegessen haben wir alle in unsern Zellen, alleine oder zu zweit. Danach wieder geredet, gespielt, bis wir um 16.30 Uhr wieder eingesperrt wurden in unsere Zellen. Um 17.00 Uhr wurden Abendessen und Frühstück für den folgenden Morgen verteilt.
Als Zivildienstler habe er im Betrieb eine Zwischenposition inne. Eine gewisse Unabhängigkeit, weil er nicht eigentlich angestellt, trotzdem aber Teil der Institution sei. Zivildienstler hiessen dort drinnen Betreuer. Früher habe es noch Sozialarbeiter gehabt. In seiner Arbeit sei er frei. Keine genaue Beschreibung der Aufgabenbereiche. Für Fachpersonen, Psychologen und so weiter sei die Stelle jedenfalls zu wenig attraktiv. Therapiestunden beispielsweise liessen sich nicht einrichten. ›Sicherheit‹ sei das Argument. Überhaupt lege die Institution den Betreuern etliche Hindernisse in den Weg. Als Betreuer sei man eben eher auf der Seite der Insassen. Man gehe dort mit Idealismus gegen die Misere der Insassen an die Arbeit. Aufseher hätten diesen nicht. Die wollen bloss ihren Job machen, der aus Sicherheitsaufgaben besteht. Morgenrapport, Auskunft über Eintritte, Ausschaffungen, Austritte. Zellentüren öffnen um 8.00 und schliessen um 16.30 Uhr. Abwartsjob. Essen austeilen. Viel Leerlauf, viel ›Blick‹ lesen im Kaffeezimmer. Eine Gemeinschaft, in der man versuche, gut aneinander vorbei, gut zuranke zu kommen.
Mittwochs waren die Zellentüren den ganzen Tag geschlossen. Das heisst, von Dienstag 16.30 Uhr bis Donnerstag 8.00 Uhr blieben wir eingesperrt in unsere Zellen. Den ganzen Mittwoch eingesperrt. Mehr als vierundzwanzig Stunden, achtundvierzig Stunden oder wie viele Stunden das auch immer waren. Das war immer so in Kloten im Ausschaffungsgefängnis. Warum? Es gibt keine Regeln dort. Die machen mit den Häftlingen, was sie wollen. Es hing von den Launen der Aufseher an der Réception ab, ob beispielsweise Freunde, die mich besuchten, Essen und Zigaretten bringen durften. Mal sagten sie ja, mal sagten sie nein, je nach Lust und Laune. Bei mir war das drei, viermal so. Ich weiss nicht, ob das ein Gesetz ist, oder Druck, oder zum Stress machen. Jedenfalls hassen alle diesen einen Tag, diesen Mittwoch.
Ich war die ganze Zeit alleine in der Zelle, mir passte das. Meistens sind es jedoch zwei Personen pro Zelle. Mittwochs war es aber schwierig, ich schrieb, schaute TV. Man konnte dort für zwei Franken pro Tag einen Computer und für einen Franken einen Fernseher mieten. So konnte ich mich beschäftigt. Briefe schrieben, aus dem Fenster schauen, die Flugzeuge beobachten. – Aber ich meine, das ist ein Horror. Was soll ich dazu sagen! So lange eingesperrt ohne Grund. Die sagen dem illegaler Aufenthalt. Menschen, die Probleme haben in ihren Heimatländern kommen hierher, beantragen Asyl und das Migrationsamt bringt sie direkt ins Gefängnis. Das ist unerhört! Ist es normalerweise nicht so, dass wenn Menschen in der Schweiz Asyl beantragen, sie bis zum Entscheid in ein Heim gebracht werden, wo sie sich frei bewegen können, spazieren, etwas tun? Während meiner Ausschaffungshaft musste ich aber oft erleben, dass viele Leute, die neu aus irgendwelchen Ländern gekommen sind, aufgegriffen wurden. Am Bahnhof, am Flughafen. Zwar haben die noch ein Asylgesuch eingereicht, wurden aber meist direkt in Ausschaffungshaft gebracht. Das ist ungerecht. Ich weiss nicht, ist das gesetzlich? Oder hat sich das Gesetz verändert?
Gegenüber den Themen Migration und Politik würden sich die Aufseher teilnahmslos geben. Der SVP-Anteil und entsprechende Ansichten seien hoch. Als Verbrecher sehen Aufseher die Insassen zwar nicht gerade. Es gebe aber doch die Ansicht, dass die schon wüssten, warum sie dort drinnen stecken. Nicht grad Verbrecher. Als Delinquente würden sie aber doch betrachtet. Dies auch aus völligem Unwissen darüber, dass das juristisch gar nicht der Fall sei, dass dort gar keiner kriminell sei. Viele der Aufseher würden das nicht reflektieren, es gehe ihnen um einen Alltag. Die Aufseher seien verletzt, weil ihre Insassen sich respektlos verhielten, die Aufseher, erkennen die Zwangsbeziehung nicht. Dass die Insassen gar keine Lust hätten, sich nett und respektvoll zu verhalten. Diesen wiederum gehe es darum, möglichst viel rauszuholen.
Demgegenüber hätten die Betreuer mehr Empathie. Im gewöhnlichen Strafvollzug sei es einfach, weil die Verurteilten wüssten, warum sie dort sind und für wie lange. Die Verhältnisse lägen klar. In der Ausschaffung hingegen sei nichts klar, die Insassen wissen nichts. Es herrsche eine grosse Unsicherheit, sie verstünden nicht, weshalb sie inhaftiert seien, wo sie doch nichts verbrochen hätten. An solche Sachen kommst du als Betreuer näher ran.
Er habe sich anfangs gefragt, was für Leute dort arbeiten würden. Alles Sadisten? Es zeige sich dort jedoch von Schweizer Seite gewissermassen die soziale Frage: Langzeitarbeitslose, alleinerziehende Mütter, Pleite Gegangene, Umsteiger, keine Jobalternativen. Machst halt was, wofür man keine Qualifikationen braucht. Eine geregelte Arbeit halt, mit relativ gutem Lohn. Keine Anlehre, zuerst Learning by Doing. Nach einem halben Jahr dann eine zweijährige, berufsbegleitende Ausbildung. Ein Brotjob halt.
Mittwochs schrien die Häftlinge oft zum Fenster raus, oder schlugen gegen die Türe, ich auch manchmal. Das muss man, sonst platzt einem der Schädel, so eingesperrt in einer kleinen Zelle, Wand, Wand, Gitter, für was, für nichts! Viele sind psychisch krank geworden, ich auch, konnte nicht mehr schlafen. Manches Mal sagte ich zu den Beamten, es sei dort schlimmer als in Guantánamo. Warum stecken sie Leute, die Asyl beantragen monatelang in Ausschaffungshaft, das ist ein Horror. Das bringt nichts, wenn sie dich nach achtzehn Monaten nicht ausschaffen können, lassen sie dich wieder auf freien Fuss und wieder bist du dann illegal. Das ist absurd.
Psychologische Hilfe? Einen Arzt gab es zwar. Mal kam einer, weil ein Zellennachbar nicht mehr gegessen, nicht mehr geredet hatte. Ich machte einen Aufseher darauf aufmerksam, dass der Nachbar krank war, nicht mehr ass, nicht mehr sprach, nicht mehr duschte, dass er vielleicht eine Behandlung bräuchte. Der Aufseher hatte darauf nicht reagiert. Das ging einige Tage so weiter bis ich schliesslich explodierte und forderte, er solle ihn zum Arzt bringen. Er meinte bloss, er sei der Chef, er wisse was er tue. Endlich am siebten Tag kam der Mann doch in ärztliche Behandlung. Allerdings nur kurz, zehn Minuten oder so, dann kam er zurück mit Tabletten in der Hand. Die haben kein Interesse, das ist denen egal. Wenn jemand stirbt, stirbt er, wenn jemand psychisch krank ist, ist er halt krank. Ärzte gibt es dort, aber eigentlich für nichts!
Der Tagesablauf sei durchstrukturiert dort, polizeimässig, militärisch. Entscheide verliefen von oben nach unten. Die Aufseher zuunterst. Trotzdem trügen die Aufseher viel Verantwortung: bei Streit in der Abteilung, oder bei Neueintritten. Sie bräuchten soziales Gespür, wer mit wem zusammenpasst. In den oberen Rängen würde das nicht so estimiert. Andererseits sei das System offen für Willkür, halt eine Realität an allen Orten, wo es Regeln gebe. Zuerst habe er gedacht, die Regeln dort seien eindeutig. In der konkreten Situation gebe es jedoch Schlupflöcher. Das hänge dann von den jeweiligen Aufsehern ab, was sich wiederum auf die Insassen auswirke: Er erzählt wie er selbst, als er dorthin kam, von den Insassen zuerst ausgetestet wurde. Weil, ausser die Aufseher zu beobachten, hätten die nichts zu tun. Grenzen ausloten: Der eine Aufseher mache es so, der andere mache es andersrum. Das aber sei abhängig von der miesen Laune des Aufsehers. Von aussen betrachtet, könne man dem Willkür sagen, von innen gesehen handle es sich bloss um schlechte Organisation. Aus Sicht der Insassen dagegen sei es ganz klar Willkür, Verschwörungstheorien entstünden da. Obwohl er bei den Aufsehern keinen gezielten Sadismus verzeichnen könne. Absurde Ansammlung von Leuten, von irgendwoher geflohen, erzwungene Konfliktgemeinschaft zwischen Wärtern und Insassen.
Überhaupt waren die Beamten, diese Chefs, diese Mitarbeiter im Gefängnis unfreundlich, hart, so rassistisch. Man merkte das. Ich weiss nicht, was die denken, was die Häftlinge verbrochen haben. Im Ausschaffungsgefängnis in Kloten waren jedenfalls höchstens zwei Prozent kriminell, höchstens. Alle andern sind Asylsuchende aus Afrika, aus Algerien, aus Afghanistan, Pakistan. Niemand würde seine Heimat verlassen, wenn er keine Probleme hätte in seiner Heimat. Aber hier werden diese grossen Kriminellen achtzehn Monate lang in Ausschaffungshaft gesteckt. Ich diskutierte und stritt oft mit dem Personal, sagte, was wir brauchen, was fehlt, was wir nicht brauchen. Die liessen sich nicht darauf ein, die meinten nur: Es muss so sein, Gesetz ist Gesetz. Ich kämpfte um meine Rechte. Die mochten das nicht, auch nicht, wenn jemand lesen, diskutieren konnte, sich mit den Rechten auskannte. Während dieser Zeit hatte ich auch Kontakte zu ›augenauf‹ [1], ich telefonierte mit ›augenauf‹ und schrieb Briefe. Die bemerkten auch, dass ich diesen Kontakt hatte. Ich merkte, dass die meine Briefe lesen, kontrollieren, wer mich besucht. Die wollten nicht, dass ich zu ›augenauf‹ Kontakt habe, ihnen Informationen darüber gebe, was im Gefängnis läuft. Die wollten das verstecken. Wenn beispielsweise irgendwelche Leute von draussen zu einer Führung durchs Gefängnis kamen, wurde denen gezeigt, wie schön wir es hier haben, hier die Zellen, hier das Spielzimmern, die Häftlinge aber wurden in die Zellen gesperrt. Weshalb? Die Direktorin wollte nicht, dass wir mit diesen Leuten sprechen. Nach zehn Monaten kam dann mal ein Zivildienstler. Er war der erste, der die Häftlinge als Menschen und nicht als Ausländer behandelte. Er verteilte regelmässig Zeitungen in die Zellen, brachte Bücher, setzte sich mit den Häftlingen zusammen um ihre Geschichten zu hören, sprach sogar englisch und auch französisch. Alle mochten ihn. Ich diskutiert viel mit ihm, musste zuletzt aber merken, dass er doch nichts ausrichten kann.
Weil ich nebst Englisch auch Deutsch lesen und schreiben kann, war ich immer viel mit den andern Häftlingen zusammen. Sie fragten mich, was geschrieben steht in den Gerichtsakten oder in den Briefen vom Migrationsamt, ich erklärte es ihnen und schrieb für viele Leute vor allem aus Afrika Briefe an die Botschaften und so, vermittelte Kontakte zu ›augenauf‹ oder zu einem Anwalt. Ich informierte mich auch immer genau, studierte Zeitungen, verfolgte Nachrichten, schaute die Sendung Arena und erzählte dann den andern, was es zu Ausländern und zur Ausschaffung Neues gibt, klärte sie auf, was Ausschaffungshaft überhaupt ist. Das war interessant für die andern. Die meisten hatten ja gar keine Ahnung, weshalb sie im Gefängnis sind. Viele wurden bei der Einreise aufgegriffen und direkt in Ausschaffungshaft gebracht. Ich verstehe nicht, warum sie Leute, die Asyl beantragen oder Sans-Papiers so lange in Ausschaffungshaft stecken.
Viele können gar nicht ausgeschafft werden. Zudem ist es den Sans-Papiers verboten zu arbeiten. Hast zwar einen Beruf, darfst aber nicht arbeiten. Was sollen sie machen, wovon sollen diese leben? Die wollen, dass die Ausländer kriminell werden. Dabei ist es so einfach: erhalten die Ausländer einen Ausweis, mit dem sie arbeiten dürfen, arbeiten sie und bezahlen Steuern. Jetzt arbeiten viele illegal und bezahlen ihre Steuern nicht und auch die Arbeitgeber brauchen so nicht zu bezahlen. Das ist ein Chaos. Es scheint, als ob die Politiker, die Gesetzmacher, wollen, dass Ausländer kriminell werden. Manchmal verstehe ich das Schweizergesetz auch nicht.
Die Beziehungen seien schwierig im Ausschaffungsgefängnis. Es gäbe dort sehr viel Bewegung, Ausschaffung, Botschafter, Haftrichter et cetera. Gefangenentransporte mache die Securitas. Den Weg zum Haftrichter besorge die SED. Da gebe es grauenhaftes Zeugs Beschimpfungen, rassistischer Umgang, unnötig hart. Dieser schlechte Umgang mit den Insassen nerve die Aufseher, und sei es auch nur darum, weil die Insassen dann aufgebracht seien. Auch die Kantonspolizei komme ins Ausschaffungsgefängnis. Dann nämlich, wenn jemand ausraste. Der Betreffende werde dann bestraft, in den Bunker eingesperrt. Die Polizei komme ausserdem, wenn jemand freiwillig in den Bunker wolle. Oder bei solchen, die Selbstmordabsichten hegen. Im Rapport heisse das dann »Reizabschirmung«. Einen Psychiater gebe es dort zwar auch, der müsse immer mal wieder schauen. Keine richtige Sitzungen, Behandlung heisse vor allem Medikamente. Wolle jemand sich das Leben nehmen, müsse er über Nacht in die Einzelzelle. Die Polizei filze den Betreffenden, ziehe ihm andere Kleider über. Ein Aufseher sitze dann vor der Tür und halte Wache.
An drei Tagen in der Woche kämen Leute vom Roten Kreuz. Er halte dann Sitzwache vor dem Sitzungszimmer. Rechts- und Rückkehrhilfe hiesse das, eine Art Beratungsgespräche, um überhaupt mal die Lage zu erklären. Die Gerichtsunterlagen seien alle in deutscher Sprache abgefasst. Abklären, was die einzelnen Insassen machen könnten, ob es sich überhaupt lohne, einen Anwalt einzuschalten. Sehr oft ginge es jedoch um Rückkehrhilfe für jene, die sagen, sie wollen das Land verlassen. Papiere organisieren, mit Angehörigen telefonieren. Kontakte habe er hergestellt zwischen den Insassen und dem Roten Kreuz. Das Rote Kreuz sei die einzige, noch richtig im Gefängnis drinnen verbliebene Organisation. Das sei für den Gefängnisbetrieb extrem wichtig. Weil, die Insassen sollten weg, das Ziel sei schon vorher klar. Es werde nicht geschaut, ob jemand bleiben könne, man wolle sie weg haben. Ausschaffungen bei Schengenfällen würden den grössten Teil ausmachen. Es gebe aber etliche, die nicht ausgeschafft werden könnten. Weil keine Papiere vorhanden seien, weil ein Land keine Papiere ausstellen wolle. Trotzdem behalte man sie monatelang drinnen. Gebe viel Geld aus. Lasse sie schliesslich doch raus, mit der Aufforderung das Land zu verlassen. Gehen sie nicht, leben sie halt illegal hier. Trotzdem gebe es seitens der Aufseher dem Roten Kreuz gegenüber ein Misstrauen. Was stecken die ihre Nase in unsere Angelegenheit?
Wir hatten auch einen Kiosk. Jeden Tag bekamen wir fünf Franken, also fünfundzwanzig Franken die Woche. Mit diesem Geld konnten die Leute was kaufen. Jeden Freitag konnte wir eine Bestellliste ausfüllen. Mayonnaise, Ketchup, Getränke, Früchte, Schokolade, Zigaretten, Tabak etc. waren im Angebot. Weil ich schreiben und lesen kann, bekam ich einen Job im Kiosk, wo ich eine Zeit lang arbeitete. So teuer wie dort sind die Sachen draussen nicht. Am teuersten waren die Früchte. Bananen, kosten sie draussen beispielsweise zwei Franken das Kilo, waren es drinnen vier Franken. Wie oft stritt ich mit dem Kioskbetreiber! Schliesslich haben die Leute, die dort drinnen sind, kaum Geld. Das ist ungerecht. Der wollte allerdings nicht diskutieren und nach drei Monaten verlor ich deswegen diesen Job auch wieder.
Jeden Freitag bekam ich Listen mit Bestellungen. Die bestellten Sachen teilte ich ein pro Zellennummern, füllte sie in eine Kiste und beschriftete sie. Am darauffolgenden Mittwoch holte ein Beamter dann die Sachen und verteilte sie. Pro Arbeitstag erhielt ich dafür zwanzig Franken. Für mich war das eine willkommene Beschäftigung, ich war froh über diese Arbeit und machte sie gerne, weil es langweilig war, den ganzen Tag in der Zelle zu sitzen ohne was zu tun. Für mich war das gut drei Monate lang. Danach machte ich wieder nichts, genau gleich wie die andern Häftlinge.
Zu seinen weiteren Aufgaben gehöre es, Neue beim Eintritt in Empfang zu nehmen. Erklären, wie der Tag im Gefängnis ablaufe. Alle, die neu kommen, würden im 1. Stock untergebracht. Man wolle sie so etwas kennen lernen, schauen, was das für Leute seien, schwierige oder nicht. Dann erfolge so eine Art Aufstieg: wenn du brav bist, kannst du in den zweiten, dritten, vierten Stock. Im zweiten, dritten, vierten Stockwerk seien die Zellentüren den ganzen Tag offen, im ersten nur den halben Tag. Im zweiten, dritten, vierten Stock gebe es einen Fitnessraum, und im dritten und vierten so ein bisschen Arbeit: dort kannst du noch schaffen, nicht viel und so. Es sei schrecklich jemanden in Empfang zu nehmen, schwierig, sich richtig zu verhalten. Wichtig sei die Präsenz. Markieren, dass man nichts zu Leid tun wolle. Aber distanziert in der Haltung. Englisch oder Französisch, die meisten Aufseher können beides nicht, oder nur sehr schlecht. Englisch und Französisch seien bloss erforderliche Basics, besser wäre Arabisch oder Russisch oder Chinesisch. Übersetzen gehöre daher auch noch zu seinen Aufgaben: Gerichtliche Verfügungen übersetzen, Aufsehern helfen bei der Kommunikation mit den Insassen, übersetzen beim Arzt. Er habe viele heikle Situationen entschärfen können, weil er eben verschiedene Sprachen beherrsche, im Unterschied zu den Aufsehern. Die seien unsicher, unsouverän, überfordert. Es herrscht dort eine Kommunikationsmisere.
Einigen gehe es sehr schlecht. Es sei immer das Gleiche: Schlimm am Anfang, es komme aber der Moment, wo die Insassen sich an die Haft gewöhnt hätten. Da funktioniere auch die Zermürbungstaktik nicht mehr. Nach einer gewissen Haftdauer sagen die sich: jetzt kann ich nochmals fünf Monate hier drin bleiben, was soll’s. Der Besuch beim Haftrichter erfolge alle drei Montae. Manche fordern da: sagt mir doch gleich, dass es achtzehn Monate sind. Trotzdem gebe es da erstaunlicherweise eine grosse Hoffnung auch bei jenen, die schon lange drinnen seien: ja vielleicht klappt es ja jetzt, vielleicht lässt der Haftrichter mich jetzt gehen. Da gebe es dann jeweils eine riesige Krise, wenn sie zurückkämen. Aber das sei eine Verkennung des Systems. Die Haftrichter würden nichts Neues sagen. Die würden lediglich prüfen, ob die Haftbegründung des Migrationsamts legal sei. Um die Ausschaffungshaft legal zu machen, gebe es allerdings tausenderlei Gründe. Die Haftrichterbesuche seien eher eine Alibiübung.
Das Schweizervolk, die meisten, haben keine Ahnung, was Ausschaffungshaft bedeutet. Das ist etwas Politisches. Die Gesetze machen die oben in Bern, die Reichen für die Armen, das ist überall so. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es so etwas gibt in der Schweiz. Die Schweizer, die ich draussen kennengelernt habe, waren alle nett und sympathisch. Die haben keine Ahnung, was Ausschaffungshaft bedeutet. Die Politiker sind es, die behaupten, dass die Ausländer kriminell sind.
Die ganzen Migrationsangelegenheiten sind nicht in einem juristischen, sondern in einem politischen Bereich angesiedelt. Es gebe da so einen politischen Willen, in der Schweiz, der das Asylsystem bestimme, eine Asylgesetzgebung. Und irgendjemand müsse das dann praktisch umsetzen. Als Nigerianer beispielsweise gibt es fast keine Möglichkeit legal hier zu bleiben. Es sei wie eine Verschleierung, wenn den Insassen gesagt würde, es gehe um Juristisches, man könne sich wehren, es gebe Rechtswege und so. Man müsse ehrlich genug sein, und irgendwann zugeben, dass wir die einen wollten, die andern nicht, Beispiel Einbürgerungen. Das habe wenig mit Rechtsstaatlichkeit zu tun, sondern mit unserer Willkür. Dass dies in der Schweiz möglich ist, sei für ihn eine Schreckerfahrung gewesen, meint ein Zivildienstler. Administrativhaft sei ein Verwaltungsakt, der den Einzelnen zum Leiden bringe, oder töte, wenn man so wolle, zugespitzt gesagt.
Autorin
Nicole Peter (*1973, lebt und arbeitet in Zürich) studierte Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Zürich und Hamburg. Derzeit arbeitet sie an einem Buch mit langem Titel zur politischen Dimension historischen Erinnerns. Sie war Redaktorin des Politmagazins Risse – Analyse und Subversion.
Illustratorin
Mariska Keller (*1978, lebt und arbeitet in Zürich) absolvierte das Kunststudium an der F+F, Schule für Kunst und Mediendesign in Zürich. Derzeit setzt sie sich künstlerisch mit dem Thema Langeweile auseinander, wobei sie sich für das Gewaltförmige interessiert, das der Langeweile als psychischem und gesellschaftlichem Zustand inne wohnt. mariska.keller@gmx.net
Fussnoten
1 ›augenauf‹ ist eine nichtstaatliche, unabhängige Menschenrechtsorganisation, die Betroffene von behördlichen Übergriffen, Diskriminierungen und Menschenrechts- oder Grundrechtsverletzungen unterstützt und entsprechende Öffentlichkeitsarbeit leistet. www.augenauf.ch