
Emanzipation oder Repression: Das Verhältnis von Gewalt zu Subjektivierung, Recht und Ordnung. Ein Essay zur Gewaltkritik bei Walter Benjamin und Judith Butler.
In der »Einbahnstrasse« schrieb Walter Benjamin: »Nur wer vernichten kann, kann kritisieren«. Kritik als Kampf: Sie muss radikal aufs Ganze zielen, auf den Umsturz des Gegebenen, auf die Ent-Setzung des Gesetzten – die Gewalt der Kritik ist innig an die Kritik von Gewalt geknüpft.
Diese besondere Konstellation von Kritik mit zwei einander entgegen gesetzten Typen von Gewalt illustriert Benjamin deutlich in seinem Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« von 1921. Darin plädiert er für den revolutionären Umsturz mit dem Begriff einer »reinen, göttlichen Gewalt«, die sich als Vollzug einer Kritik herausstellt, welche wiederum auf die Gewalt des Bestehenden gerichtet ist. Diese Gewalt ist Repression und Zwang, jene ist emanzipatorische Gegen-Gewalt. Benjamins Kritik beabsichtigt eine Analyse des Verhältnisses von Gewalt zu Recht und Gerechtigkeit, um eine praktische Widersprüchlichkeit der gegenwärtigen Rechtsordnung zu demonstrieren und sich schliesslich für eine Ausserkraftsetzung dieser Rechtsordnung einzusetzen. Benjamins Gewaltkritik ist eine Kritik des Rechts.
Judith Butler hat sich unter dem Titel »Kritik, Zwang und das heilige Leben in Walter Benjamins ‚Zur Kritik der Gewalt’« mit dessen Aufsatz auseinandergesetzt. Sie liest die von Benjamin kritisierte Staats- und Rechtsgewalt als eine »legale Gewalt«, die in der Aufrechterhaltung ihrer eigenen Legitimität und Durchsetzbarkeit sowie in der Verpflichtung auf gesetzeskonformes Verhalten und rechtliche Verantwortlichkeit wirksam ist. Butler problematisiert die subjektivierende Wirkung der staatlichen Rechtsordnung: Diese erzeugt Rechtssubjekte, die über einen bindenden Rechtsstatus definiert werden und deren Anerkennung also an ihre rechtliche Verantwortlichkeit gebunden ist. In ihrer 2002 gehaltenen Adorno-Vorlesung an der Universität Frankfurt, die in dem Band »Kritik der ethischen Gewalt« zusammengefasst ist, erörtert Butler die Prob-leme der Anerkennung und der Verantwortlichkeit als Probleme normativer und ethischer Gewalt. Butlers Gewaltkritik ist eine Kritik des Subjekts.
Unabhängig von ihren unterschiedlichen historischen Entstehungskontexten zeigen Benjamins und Butlers Arbeiten eine besondere Konstellation der theoretischen Reflexion mit ihrem reflektierten Gegenstand an: Gewalt in der Kritik. Es geht der Kritik nicht um eine Definition als Antwort auf die Frage, was Gewalt ist, sondern vielmehr um eine Präzision und Verschärfung der Problemstellung, die sich ergibt, wenn von Gewalt die Rede ist. – Wie fragt man nach Gewalt? Wie nähert man sich einem Gegenstand, der sich dem nach Einsicht strebenden Zugriff entzieht, weil er mit dem Zugreifen selbst schon auf merkwürdige Weise verknüpft scheint? Wie lässt sich das Bedürfnis verstehen, das solch eine Frage überhaupt stellt? In welcher Weise stellt sich diesem Bedürfnis der Gegenstand als ein Problem dar und was drückt die Art der Problematisierung über das Bedürfnis selbst aus? – Eine Kritik der Gewalt verweist sowohl auf eine bestimmte Vorstellung von Gewalt als auch auf eine bestimmte Vorstellung von der eigenen Vorgehensweise als einer kritischen.
Zeitdiagnose und Begriffsanalyse gehen in der Kritik Hand in Hand, da sie die kritisierten Phänomene auf die Wissensformen und Ordnungssysteme zurückverfolgen, deren Ausdruck sie sind. Butlers und Benjamins Gewaltkritiken arbeiten beide an einem ähnlichen Anliegen: Das Problem der Gewalt zu präzisieren und differenziert zu betrachten als immer schon eingebettet in ein soziales und normatives Gefüge, ein Gefüge von Macht, Herrschaft und Recht, als ein Problem von Repression und Emanzipation.
Wie Walter Benjamin in den einleitenden Sätzen seines Aufsatzes noch recht vage formuliert, handelt es sich dann um Gewalt, wenn »eine wie immer wirksame Ursache in sittliche Verhältnisse eingreift«. Weiter führt er an, dass die Sphäre der sittlichen Verhältnisse eben durch das Recht, als dasjenige, was diese regelt und ordnet, und durch die Gerechtigkeit, als dasjenige, woran das Recht sich seinem eigenen Selbstverständnis nach orientiert, bestimmt wird. Axel Honneth kehrt in seiner Rezeption das Spezifische der von Benjamin kritisierten Gewalt heraus: Demnach handelt es sich um eine Gewalt, die deshalb sittliche Veränderungen in einer Gesellschaft zu erzwingen vermag, weil sie selbst gesellschaftlich mit hinreichend sittlicher Geltungskraft ausgestattet ist.
Eine solche zwingende Macht findet Benjamin in der positiven Rechtsordnung als dem gegenwärtigen europäischen Rechtssystem vor. Der Rechtspositivismus zeichnet sich laut Benjamin dadurch aus, dass er unabhängig von Einzelfällen ihrer Anwendung zwischen sanktionierter rechtmässiger und nichtsanktionierter unrechtmässiger Gewalt unterscheidet, also über die Frage nach der historisch gewordenen Anerkanntheit von Gewalt entscheidet. Benjamin fragt sich nun, welches Licht das auf den Wert der Rechtssphäre wirft, die diesen Massstab für die Unterscheidung der Rechtmässigkeit anwendet. Denn die rechtliche Unterscheidung zwischen sanktionierter und nicht-sanktionierter Gewalt wird zur Entscheidung darüber, was gesellschaftlich überhaupt als Gewalt gilt und was nicht. Denjenigen Gewaltmechanismen, die eine Sanktionierung erfahren, wird Gesetzeskraft erteilt und damit wird ihr gewaltsamer Charakter unkenntlich gemacht. Nur nicht-sanktionierte Gewalt entspricht dem, was im öffentlichen Bewusstsein mit dem Gewaltbegriff belegt wird und sich als der Rechtssphäre entgegengesetzt etabliert. Der eigene Gewaltcharakter und -ursprung des Rechts entschwindet dabei der Aufmerksamkeit, obwohl eben jene Unterscheidungsgewalt schon eine Anwendungsform solch sanktionierter Gewalt darstellt.
Jede Handlungsinstanz, die verändernd »in sittliche Verhältnisse eingreift« – in Benjamins Beispielen sind das die Kriegsgewalt, das Militär, die Polizei, aber auch der Arbeitsstreik –, bezieht sich implizit auf bestehende normative Setzungen, auf Gesetze. Tut sie das nicht, führt sie neues Recht ein. In diesem Sinne ist, so Benjamin, jede Gewalt prinzipiell entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Die Rechtserhaltung ist dabei im Grunde die permanente Bestätigung und Reproduktion der Rechtsetzung. Auch die Modifikation, die Reform eines Rechtes bestätigt die Rechtsordnung insgesamt als Grundlage der Modifikation und erhält sie darüber aufrecht.
Da auch jede Gewalthandlung, die von der Rechtsordnung nicht erfasst ist, das Potential der Rechtsetzung innehat, bedarf das Recht zu seiner Institutionalisierung und Reproduktion einer Monopolisierung gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren. Keine andere Instanz als das Recht selbst darf auch Recht setzen, um nicht die Wirksamkeit des Rechts einzubüssen. Um die Selbstlegitimation zu wahren, schränkt das Recht also die Handlungsfreiheit der Rechtssubjekte ein: Es erhält sich selbst unter Androhung von strafender Gewalt durch die Unterordnung der Subjekte als Rechtssubjekte unter das Gesetz.
Das Recht nimmt also die Monopolstellung ein, nicht nur im Sinne der Machtinstanz, die über Rechtszwecke und Sanktioniertheit von Gewalt zu entscheiden vermag, sondern auch durch die Möglichkeit, in einem von ihm selbst festgelegten Notfall – dem »Ausnahmezustand« – auch entgegen der eigenen Prinzipien jedwede Form von Gewalt anwenden zu können, um seine eigene Machtordnung aufrechtzuerhalten.
Das positive Recht hat mit der Tradition des Naturrechts die Überzeugung gemeinsam, dass gerechte Zwecke durch rechtmässige Mittel erreicht, rechtmässige Mittel an gerechte Zwecke verwendet werden können. Benjamin zufolge liegen aber rechtmässige Mittel und gerechte Zwecke miteinander in »unversöhnlichem Widerstreit«. Das Gesetz ist rechtmässig, eine Handlung mag rechtmässig sein, aber auch ihr Ergebnis kann nicht anders als nach seiner Rechtmässigkeit beurteilt werden. Die Zweck-Mittel-Rationalität des Rechtmässigkeitsprinzips sowie der setzende, monopolisierende und verallgemeinernde Charakter der Rechtsordnung selbst sind die Faktoren, die nach Benjamin verwirklichter Gerechtigkeit zuwiderlaufen. Gerechte Zwecke erheben Anspruch auf Allgemeingültigkeit, ja, aber Verallgemeinerung ist nicht gerecht. Jacques Derrida, der die Auseinandersetzung mit Benjamins Gewaltkritik zum Anlass nimmt, den Gerechtigkeitsanspruch des Dekonstruktivismus zu erörtern, drückt es in »Gesetzeskraft. Der ‚mystische Grund der Autorität’« folgendermassen aus: »Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge)recht, dass es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar: sie erfordert, dass man mit dem Unberechenbaren rechnet.«
Auch Benjamin möchte verdeutlichen, dass Recht und Gerechtigkeit etwas fundamental von einander Verschiedenes sind und die gängige Verknüpfung, wonach das Recht stets im Dienste der Gerechtigkeit steht, ein Trugschluss ist. Ebenso geht auch die Annahme fehl, dass die Rechtsordnung mittels Einhegung dessen, was sie als Gewalt kennzeichnet, die Verringerung gewaltsamer Verhältnisse ermöglicht und garantiert. Der Ordnung des Staatsrechts geht es laut Benjamin letztlich um die Setzung und Aufrechterhaltung ihrer Macht und damit um einen Zweck, der innig an Gewalt gebunden eingesetzt wird. Axel Honneth liest Benjamins Gewaltkritik als eine Kritik der Zweck-Mittel-Rationalität, die letztlich nur den egoistischen Individualinteressen dienlich ist. Folglich ist es innerhalb der Rechtsordnung bestenfalls bloss möglich, eine Ökonomie der Ausgleichsgerechtigkeit einzurichten. In einer solchen aber wird das grundlegende Gewaltverhältnis der bestehenden Ordnung laufend reproduziert.
Judith Butler setzt mit einer anderen Perspektive ein. Sie charakterisiert das Subjekt als ein von jeher dem gewaltsamen gesellschaftlichen Zusammenhang Unterworfenes. Dieses ist durch sein Handeln innerhalb gesellschaftlicher normativer Rahmenvorgaben immer wieder dazu genötigt, sich selbst und anderen Gewalt zuzufügen.
Wie ist das zu verstehen? – Subjektivierung ist durch eine Dialektik von Konstitution und Destruktion, Ermöglichung und Begrenzung, Handlungsfähigkeit und Zwang bestimmt. Die Weisen, in denen wir uns selbst als Mensch oder als ein Ich verstehen, uns anderen gegenüber verständlich machen und also auch andere als Gegenüber anerkennen, sind durch bestimmte Formen der Rationalität bestimmt. Mit Rekurs auf Michel Foucault versteht Butler diese herrschende Rationalität als ein »Wahrheitsregime«, eine »geschichtlich instituierte Ordnung der Ontologie«, welche die Mittel organisiert, die Anerkennung und somit die Entstehungsbedingungen des Ichs, d.h. die Bedingungen des Subjektwerdens, überhaupt erst ermöglichen. »Wer gilt als Mensch? Wessen Leben gilt als Leben?«, so lauten die zentralen Fragen in Butlers Aufsatzsammlung »Gefährdetes Leben«. Die Bestimmung der biologischen Funktionen reicht nicht aus zum Menschsein; Mensch ist erst, wer auch als Mensch anerkannt, als Mensch angesprochen und verteidigt wird. Laut Butler führt dies zu einer prekären Lage des Subjekts, zu einem kollektiven einander Ausgesetztsein in unserem Bedürfnis nach Anerkennung, zu einer fundamentalen sozialen Verwundbarkeit. Damit verweist sie auch darauf, dass die Frage der Anerkennung immer auch eine Frage von Macht ist, die das Wie und Was der Anerkennung bestimmt. Wir anerkennen den Anderen in einer gewissen Bestimmtheit, denn die Bewegung der Anerkennung setzt immer eine Unterwerfung unter eine Anerkennungsnorm voraus. Diese Normen sind uns eingeschrieben, wir setzen sie permanent neu ein. So steckt der gewaltsame Charakter der normativen Setzung strukturell schon in jedem sprachlichen Ausdruck, in jedem Akt der Ansprache oder der Narration. Es handelt sich also um eine entpersonalisierte, diskursive Gewalt, die man selbst jedes Mal einsetzt, wenn man in seinem Sprechen den »Logos teilt, durch den man lebt.« Dabei bleibt offen, welche anderen Wege ausserhalb der gegebenen Rationalität möglich gewesen wären oder noch möglich sind.
Diese normative Gewalt erweist sich laut Butler auch als ein Problem von Verantwortlichkeit und Rechenschaftsvermögen des Subjekts, als ein Problem ethischer Gewalt. Denn: Die Forderung nach beständiger Demonstration der Selbstidentität und der vollständigen Kohärenz der Selbstaussage – als Grundlage von Souveränität und Verantwortungsfähigkeit – wirkt eben genau dann als ethische Gewalt, wenn sie die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen des Subjekts und ihre eigene Gewaltsamkeit in Form der normativen Zurichtung nicht reflektiert.
Es handelt sich um ein höchst ambivalentes Verhältnis: Erst in einem Rahmen sozialer Normativität erscheint der andere als ein Anderer, zu dem man sich in irgendein Verhältnis setzen muss. Andererseits ist diese Bezüglichkeit zum Anderen in einem immer schon gegebenen normativen Rahmen der Grund dafür, dass wir uns stets selbst undurchschaubar bleiben. Wir sind uns selbst enteignet und gleichzeitig sind wir nicht ohne den Anderen. Das Ich kann seine Geschichte nur nach erkennbaren Normen der Lebenserzählung, die über das gesellschaftliche Umfeld organisiert sind, erzählen, und aus diesem Grund, so Butler, seine eigene Identität niemals vollständig einholen. Auf die Spitze getrieben kommt so das eigene Verlangen nach einer narrativen Darstellung, nach einem regelrechten Bekenntnis, dem Zwang gleich, sich selbst Gewalt anzutun: In dem gewaltsamen Versuch, die eigene Souveränität und Einheit zu erlangen. Butler schliesst daraus, dass das Scheitern der Selbstidentität wesentlich ist für das, was wir sind, und deshalb zur eigentlichen Grundlage für Anerkennung realisiert werden sollte. Erst ewiger Aufschub der Identifikation ermöglicht eine gewaltfreie Ethik.
Kritik heisst immer auch Gradwanderung: Da sie sich einerseits gegen das Bestehende oder zumindest gegen die Unumstösslichkeit des Bestehenden richtet und andererseits darauf angewiesen ist, ihre eigenen Ressourcen aus der Rationalität des Bestehenden zu schöpfen, muss die Kritik immer wieder auch ihre eigenen normativen Grundlagen reflektieren. Hier zeichnet sich ein grundlegender Unterschied zwischen Benjamins und Butlers Positionen als Kritiker ab:
Bei Butler sind die Anerkennungsnormen und das Regime der herrschenden Rationalitäten zwar wandelbar, als Ganzes aber für uns als soziale Subjekte und damit für unsere soziale Wirklichkeit unhintergehbar konstitutiv. Somit besteht für ihre Konzeption die Gefahr, in der Gleichsetzung von Konstitutionsmechanismen des Selbst und der Herrschaft eine Ontologisierung der Unterwerfung festzuschreiben. Damit verfiele sie allerdings einem Essentialismus, der ihrer Intention zuwiderlaufen und ihrer Kritik die Motivation entwenden würde. Butler scheint in diesem Paradox gefangen zu bleiben: Einerseits insistiert sie auf der Geschichtlichkeit der Ordnungsweisen unserer Wirklichkeit und plädiert deshalb für einen »Aufstand auf der Ebene der Ontologie«. Andererseits beschränken diese Ontologie gewordenen Ordnungsweisen das Verständnis dessen, was möglich ist, und begrenzen auf diese Weise nicht nur die Möglichkeiten zur Einsicht in deren Zwänge sondern auch die Möglichkeit des Aufstandes. Gegen die eigenen Begrenzungen anzurennen heisst bei Butler, diese Grenzen beständig zu verschieben, mit der Frage nach ihren Konstitutionsbedingungen ihre Transformationsfähigkeit auszureizen – aber nicht ihre radikale Ausserkraftsetzung. In Butlers Konzeption gibt es keine Möglichkeit der revolutionären Gegen-Gewalt.
Benjamin wiederum macht gegenüber der Wirklichkeit den Bezugspunkt einer (noch) gestaltlosen Wahrheit geltend, die im Bestehenden verstellt, betrogen, korrumpiert ist. Zum Ende seines Aufsatzes stellt er fest: »Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte«. Das heisst: Benjamins Kritik beschreibt eine Geschichtlichkeit der Gewalt des Rechts, die unter die Idee des Ausgangs ihrer Geschichte gestellt wird. Das Recht steht für den Bewusstseinszustand ein, durch den das gegenwärtige Zeitalter geprägt ist. Revolutionäre Gewalt hat deshalb jenseits dessen stattzufinden, was alle Rechtstheorie ins Auge fasst. Jegliche Kritik, die nicht auf die Transzendierbarkeit des Ganzen zielt, auf die Ausserkraftsetzung der Machtinstanzen, sprich auf die Ent-Setzung des Gesetzten, setzt die Geschichte der Gewalt und damit auch die eigene Ohnmacht fort. Ebendies ist das transgressive Moment der Kritik: Den Wahrheitsgehalt aus dem analysierten Gegenstand als sein Ideal zu entwickeln und ihm zugleich als kritisches Potential für das noch zu Verwirklichende entgegen zu halten. Oder, wie Benjamin schon 1915 in seinem Essay »Das Leben der Studenten« formulierte: »Das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien. Dem allein dient die Kritik.«
Trotz diesen unterschiedlichen Perspektiven Benjamins und Butlers ergibt sich in ihrer Konstellation ein fruchtbarer Ansatz für die Fortführung von Gewaltkritik: Liest man Butler mit Benjamin und Benjamin mit Butler, so wird sowohl begreiflich, wie das staatliche Recht sozial wirksam ist als normative und ethische Gewalt, als auch, wie eng Subjektkonstitution, Anerkennung und Handlungsmöglichkeiten in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung mit Gesetz, Recht und Staat verstrickt sind. Hinter beiden kritischen Auseinandersetzungen mit Gewalt steckt eine grundsätzliche gemeinsame Überzeugung: Ohne die Frage nach dem Menschen, nach dem Menschlichen und nach Gerechtigkeit bleibt die theoretische Thematisierung von Gewalt bedeutungslos. Und ohne eine Reflexion darauf, auf welche Weise sich solch eine Frage überhaupt stellen lässt, läuft die Frage nach dem Menschen immer Gefahr, selbst repressiv gewaltsam zu verfahren.
Ausgehend von der Annahme ihrer Veränderbarkeit lenken Butler und Benjamin den Blick auf diejenigen Strukturen der sozialen Wirklichkeit, die das Unmenschliche oder Ungerechte einsetzen und perpetuieren. Ihre Kritik widmet sich der Gewalt nicht einfach als Problem, sondern fragt nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass und wie Gewalt problematisiert wird – beispielsweise in der Auffassung eines vermeintlichen Dualismus von gewaltsamen Verhältnissen auf der einen und geordneten Regel- und Rechtssystemen auf der anderen Seite – und entdeckt dabei, dass eben diese Voraussetzungen selbst schon gewaltsamen Charakters sind, indem sie eine Ordnung der Wahrheit und der Verpflichtungen aufstellen, deren Kontingenz sie negieren.
Sowohl Butler als auch Benjamin verstehen die Gewaltkritik als emanzipatorisch motivierten Angriff auf vermeintliche Selbstverständlichkeiten bzw. auf Mechanismen, die den Eindruck von der Unhintergehbarkeit bestimmter sozialer Verhältnisse wie Selbstverhältnisse erwecken. Die Kritik entlarvt die selbstverständlich gewordenen Ordnungssysteme als Systeme von Herrschaft. Insofern entziffern beide – Butler in Bezug auf das Subjekt, Benjamin hinsichtlich des Rechts – ihre kritisierten Gegenstände als Ideologien: Sie zeigen den ideologischen Charakter der Ideale vom Subjekt als souveränes Individuum und Identitätskategorie einerseits und von dem staatlichen Recht als friedliche Institution für den Erhalt von Ordnung und Gerechtigkeit andererseits auf. Butler enthüllt eine gewaltförmige Sozialität, die das handlungsfähige Subjekt um den Preis seiner Unterwerfung unter die Technologien der Macht einsetzt und bildet; Benjamin demaskiert eine inzwischen in jeden Winkel des gesellschaftlichen Lebens eingedrungene Rechtsgewalt, die letztlich nur dem Erhalt der etablierten Herrschaftsordnung dient.
Beide Ausführungen zeigen: Nur im Vollzug der Kritik lässt sich Gewalt angemessen theoretisch reflektieren. Und: Wenn Kritik stets auf die Frage nach dem Verhältnis von Wissen, Macht und Lebensbedingungen gerichtet ist, wenn sie nach den Begrenzungen und Ausschlussmechanismen der Bewertungssysteme und Ordnungsweisen der gesellschaftlichen Praktiken und Institutionen fragt, die sich so darstellen, als gäbe es zu ihnen keine möglichen Alternativen – dann heisst das, dass Kritik im Grunde immer schon auf Gewalt gerichtet ist. Darüber hinaus muss sich die Kritik in der konsequenten Infragestellung vermeintlicher Selbstverständnisse ein gewisses Mass an Zerstörungskraft zutrauen: Die Gewalt der Kritik ist die Kritik der Gewalt.
Letztlich demonstriert die Kritik ihre eigene Dringlichkeit und Aktualität: als eine (nicht nur) theoretische Praxis der Auseinandersetzung mit einer Wirklichkeit, die eben nicht so ist, wie sie ist, und nicht so sein muss und soll, wie sie erscheint.
Autor_in
Lina Brion (*1986, lebt in Berlin) verliess im Sommer 2006 ihr Heimatdorf Hamburg-St. Pauli in Richtung Hauptstad, um an den letzten Jahren der Berliner Brachflächen und grosszügigen Altbauwohnungen teilzuhaben. Nach Streifzügen im Musikjournalismus (vom selbstorganisierten Jugendmagazin-Projekt Freihafen zur Spex) und Kulturmanagement (DIY-Kunst-Projekt MachtRaum – VisualArts und Performance im öffentlichen Raum) widmet sie sich seither im Rahmen eines Studiums der Philosophie und Kulturwissenschaften Fragen der Kultur- und Sozialphilosophie. Ihre Arbeit zentriert sich mehr und mehr auf die Dringlichkeit von Kritik – zwischen kritischer Theorie der Gesellschaft, marxistischer Ideologietheorie, poststrukturalistischer Subjektivierungskritik und den Widersprüchlichkeiten von Popkultur. www.machtraum.de